Detail: Vertreterversammlung - Oktober 2021

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Nach 28 Monaten kam Ende Oktober erstmals wieder unsere Vertreterversammlung zusammen. Ein Abend, der von großem Hallo, großem Tschüss und großer Politik geprägt war. 

So kurz war die Tagesordnung noch nie. Nachdem unsere Vertreterinnen und Vertreter die drängendsten Entscheidungen bereits im schriftlichen Umlaufverfahren getroffen hatten, blieb an sich vor allem eins zu tun: über die Zusammensetzung des Aufsichtsrates zu bestimmen. Allerdings sind seit dem letzten Treffen nicht nur die Amtszeiten von vier Aufsichtsratsmitgliedern turnusgemäß abgelaufen. Es hat sich auch noch einiges andere getan: Im Mai wurde Matthias Schröder zum Vorsitzenden des Gremiums gewählt, im September ein neuer Bundestag. So stand an diesem Abend zudem ein Abschied auf dem Programm sowie ein prüfender Blick auf das Sondierungspapier der Ampelkoalition.

An Letzterem versuchte sich kein Geringerer als Andreas Breitner. Als Politikprofi hatten wir den Direktor des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW) gebeten, uns unter anderem diese Frage zu beantworten: Was bedeutet das Ergebnis der Bundestagswahl für die Wohnungswirtschaft?

2.500 Häuser müssten pro Tag saniert werden, um die Klimaziele zu erreichen

Überraschenderweise zuckte er jedoch mit den Schultern: „Wenn ich das mal wüsste“, meinte Breitner offen. Das zu diesem Zeitpunkt frisch vorgelegte Sondierungspapier ließ keine definitiven Schlüsse zu. Im Gegenteil: In den entscheidenden Punkten produzierte es sogar viele Fragen und noch mehr Zweifel.

Die großen Herausforderungen

Abgesehen vom Handwerkermangel und von grotesk gestiegenen Preisen für Baumaterial von bis zu 200 Prozent sieht Breitner drei große Trends im Wohnungswesen: die Veränderung der Bevölkerungsstruktur, die Urbanisierung und selbstredend den Klimaschutz. Alle drei stellen sowohl die Politik und Kommunen als auch die Wohnungswirtschaft in Deutschland vor große Herausforderungen.

Wie müssen Wohnungen aussehen und wie groß müssen sie sein, wenn die Bevölkerung immer älter wird und immer mehr Menschen allein leben? Wo sollen die Metropolen die Grundstücke hernehmen, wenn der Zuzug nicht stoppt, weil es nur dort Arbeit gibt? Ja, und nicht zuletzt: Wer soll und kann das alles bezahlen – Klimaschutz, überteuerte Grundstücke, Handwerker, Material? Das sind essenzielle Fragen, auf die die gesamte Gesellschaft Antworten braucht. Im Sondierungspapier fehlen sie jedoch. Und auch im Koalitionspapier werde es Lücken geben, ist der VNW-Direktor überzeugt. Denn nicht für alles lasse sich eine Lösung finden.

Nutzer wird übersehen

So steht im Sondierungspapier unter anderem, dass die Anforderungen an den Klimaschutz im Gebäudesektor noch steigen sollen. Allen voran im Neubau. Andreas Breitner zweifelt jedoch, dass das zielführend ist. Denn was beim Planen am grünen Tisch häufig übersehen wird: der Nutzer der Wohnung. „Bei Häusern mit KfW-Standard 40 ist es konzeptionell gar nicht vorgesehen, dass die Bewohner bei offenem Fenster schlafen“, erläuterte er anschaulich. „Stattdessen sollen sie einmal die Woche den Luftfilter wechseln.“ Das ist gut für die Energiebilanz. „Aber wissen das auch die Nutzer der Wohnung? Und wenn, verhalten sie sich danach?“

22 Millionen Gebäude gibt es in Deutschland 

Die Statistiken zeigen: Sie tun es nicht. „Deshalb sind die Energiebilanzen immer rein rechnerisch besser, als sie es tatsächlich sind“, verdeutlichte Breitner. „Und deshalb haben auch die Sanierungsarien der vergangenen Jahre für die CO2-Bilanz relativ wenig gebracht.“ Der Klimaschutz im Bestand soll dennoch beschleunigt werden – oder gerade deswegen. „Das heißt: Wir sollen dichten und dämmen. Ist das aber noch bezahlbar?“ Der Bundesrechnungshof hat bereits ermittelt, was es bedeutet, wenn Millionen Bestandswohnungen energetisch modernisiert werden. Es sind Milliardenbeträge. Andreas Breitner: „Ich frage mich, wo das Geld herkommen soll. Von den Mieter*innen wohl nicht, wenn man bezahlbares Wohnen erhalten will.“ Bleibt nur noch eine Alternative: Die künftige Bundesregierung stellt „gigantische Fördersummen“ zur Verfügung. „Aber auch da habe ich meine Zweifel.“

Bündnis im Gespräch

VNW-Direktor Andreas Breitner blickt zwar mit großer Skepsis auf die Absichtserklärungen der Ampel. Die Tatsache, dass das Thema Wohnen gesondert in dem Zehn-Punkte-Papier aufgeführt wurde, ist allerdings eine große Sache. „Wohnen hat eine Renaissance erfahren und damit eine Bedeutung, die es seit den 1950er-Jahren nicht mehr hatte.“ Das begrüße er erst mal. Und insbesondere, dass ein „Bündnis bezahlbarer Wohnraum“ geschmiedet werden soll. Angelehnt an das Hamburger Vorbild mit klaren Zielen: Anstatt wie bisher 200.0000 Wohnungen sollen künftig jährlich 400.000 Wohnungen gebaut werden. 100.000 davon öffentlich gefördert. Andreas Breitner: „Jetzt müssen wir nur darauf achten, dass der Zug nicht in die falsche Richtung fährt.“ Zum Beispiel mit einer neuen Wohngemeinnützigkeit im Gepäck. Diese steht ebenfalls im Sondierungspapier. Sollte sie im Koalitionsvertrag verankert werden, hätten Genossenschaften wie unsere „1904“ zwei Wahlmöglichkeiten: höhere Kosten oder zurück in die 1970er-Jahre. Wir möchten weder das eine noch das andere.

 

Mehr zum Thema:

Vertreterversammlung im schriftlichen Umlaufverfahren, „bei uns“, Sommer 2021